Wo eigentlich liegt der Cyberspace? Können wir ihn fühlen, riechen, durchschreiten – hat er ein sinnliches Korrelat in der materiellen Welt? Während der reale, weltliche Raum, der physische Boden im 21. Jahrhundert durch fortschreitende Urbanisierung, klimatische Veränderungen und Raubbau an Ressourcen knapper zu werden droht, expandiert die virtuelle Welt in rasender Geschwindigkeit. Mehr und mehr gerät der Mensch zum dissoziativen Wesen: mit dem Kopf in der Datenbrille und den Füßen im Nirgendwo. Was aber bleibt, wenn körperliche Erfahrung durch Simulationen verdrängt, erlebte Wirklichkeit zusehends im Datennirwana aufgelöst wird? Wie kann sich der scheinbar entmaterialisierte Mensch in Zukunft verorten? Ralf Hanselle entwirft in seinem Essay ein Bild der conditio humana des heraufziehenden Homo digitalis.
Stilkunden beschäftigen sich in der Regel mit dem, was als guter Stil gilt, der schlechte findet allenfalls am Rande Erwähnung. Dabei ist er, statistisch gesehen, viel verbreiteter als der gute und verdiente schon deshalb größere Aufmerksamkeit. Außerdem hat er in seinen mannigfaltigen Erscheinungsformen durchaus eigene, wenn auch meist unbeabsichtigte Reize. Stefan aus dem Siepen nimmt sich ihrer mit der Leidenschaft eines maliziösen Genießers an. Erzählerische Nachlässigkeiten, überfrachtete Sätze, missglückte Anfänge, preziöse Wortwahl, sprachliche Vulgaritäten, schiefe Metaphern, raunende Titel, ungelenke Intimszenen, … – sämtliche vorgestellten stilistischen Patzer stammen aus den Federn großer Schriftsteller. Selbst diese waren gegen gelegentliche Ausrutscher nicht gefeit. Stefan aus dem Siepen legt mit seiner spiegelverkehrten Stilkunde keine Anthologie pedantisch kompilierter literarischer Fehlgriffe vor, vielmehr erweist er dem Geglückten seine Reverenz. Denn die Reflexionen über das sprachliche Pappmaché handeln immer auch von den edleren Materialien der Literatur.
Die Geburtsurkunde des Radios in Deutschland ist auf den 29. Oktober 1923 datiert. Vier Jahre später schon ließ sich Charles Lindberghs spektakulärer Flug über den Atlantik per Funk verfolgen. Das Weltgeschehen drang von da an bis in die entlegensten Winkel. Ein Knopfdruck genügte. Stephan Krass nimmt seine Leser mit auf eine fulminante Reise durch hundert Jahre Rundfunk – von den verheißungsvollen Anfängen in der Weimarer Republik über die Gleichschaltung unter Goebbels und dem akustischen Krieg alliierter Geheimdienste bis hin zu den legendären philosophischen Streitgesprächen der frühen Bundesrepublik, den Hörspielen, Bildungs- und Unterhaltungssendungen, Sportübertragungen und Livereportagen. Schließlich blickt er auf das erfolgreichste akustische Medium seit der Erfindung des Radios: den Podcast.
Einen höheren Grad an Gleichberechtigung als in unserer Gesellschaft hat es kaum je in der Geschichte gegeben. In den gegenwärtigen Debatten jedoch scheint es häufig so, als seien noch nie so viele Menschen diskriminiert worden wie heute. Beständig drängen neue Interessengruppen mit Forderungen nach Entschädigung an die Öffentlichkeit, ein regelrechter Wettkampf, wem die größte Opferrolle gebührt, ist entbrannt. Befindlichkeit ist Trumpf. Mit den gesteigerten Empfindlichkeiten wächst das Bedürfnis nach Deutungshoheit und Sozialkontrolle. Gegen die Interessen und Lebensvorstellungen einer überwältigenden Mehrheit streben kleine Gruppierungen, getrieben von politischem Sendungsbewusstsein, den fundamentalen gesellschaftlichen Wandel und ein neues kulturelles Selbstverständnis an. Bernd Ahrbeck zieht eine ernüchternde Bilanz dieser Entwicklung und verweist auf ihre beachtliche Sprengkraft.
Dienstleistungen gibt es zuhauf, wir leben in einer Servicegesellschaft. Aber Dienstboten? Man kennt sie aus Historienfilmen, aus Fernsehserien wie »The Crown« und »Downton Abbey«. Ihr prominentester Vertreter ist der Butler, ohne den viele englische Romane nicht auskämen. Doch das Wort »Dienstbote« hat, anders als der Postbote oder der Pizzabote, einen altmodischen Klang. Dienstboten gibt es nicht mehr. Oder doch? Wie soll man die zahllosen Menschen nennen, die eine ungeliebte, meist schlecht bezahlte Arbeit verrichten? Ulrich Greiner wirft einen Blick auf den gegenwärtigen Umgang mit Dienstleistungen und kontrastiert diesen Befund mit vergangenen Formen aristokratischer und später auch bürgerlicher Repräsentation. Er widmet sich der Prachtentfaltung an irdischen Höfen, um darüber zu sinnieren, wie davon einst die Vorstellung vom Kosmos der himmlischen Heerscharen geprägt wurde. Denn sind nicht auch die Engel – in einem umfassenderen Sinn – Dienstboten?
Von jeher galt es, nützlich, dauerhaft und schön zu bauen. Erst das »Neue Bauen« brach nach dem Ersten Weltkrieg mit der Überlieferung. Ein abstraktes Architekturverständnis wurde propagiert, man glaubte, auf den Schatz jahrhundertelanger Erfahrung verzichten zu können. Diese im Funktionalismus gipfelnde stadtzerstörerische und lebensfeindliche Praxis rief Widerstand auf den Plan, der an die Grundlagen des Architektonischen erinnerte. Damit rückte auch eine Selbstverständlichkeit wieder in den Blick, die angestrengter Beteuerungen nicht bedurfte: die Nachhaltigkeit. Doch mit dem »Green Deal« – der wundersamen Verschwisterung von Ökologie und Kommerz – steht dem Bauen nur ein weiteres unheilvolles Experiment bevor. Den Architekten allerdings beginnt die allzu bereitwillig akzeptierte Rolle als kreative Verpackungskünstler suspekt zu werden. Die Auflösung ihres Metiers in einer politisch motivierten, konsumdienlichen »Baukultur« jedenfalls wollen sie nicht widerspruchslos hinnehmen.
Die Provinz hat keinen guten Ruf. Sie gilt als verschlafen, rückständig und piefig. »Provinziell« zu sein, lässt sich daher niemand gerne nachsagen. Wer hip, modern sein und am Puls der Zeit leben will, muss sich in Berlin oder einer der Metropolen dieser Welt herumtreiben. Vergessen wird jedoch oft, dass das geistige und kulturelle Leben Deutschlands jahrhundertelang in der Provinz stattfand und bis heute stattfindet – man denke nur an Weimar, Heidelberg, Tübingen oder Marburg. Eine Metropole gab es lange Zeit nicht. Die Provinz war Ort des Aufbruchs, des intellektuellen und wirtschaftlichen, aber auch des erotischen, wie die französische Literatur des 19. Jahrhunderts belegt. Von Würzburg über Bochum und Siegen nach Palo Alto: Der Weltbürger Hans Ulrich Gumbrecht hat fast ausschließlich in der Peripherie gelebt. Da, wo sich Hightech-Unternehmen, Forschungsinstitutionen und viele der besten Universitäten der Welt befinden. Das Silicon Valley steht paradigmatisch für diesen Trend. Ist die Provinz vielleicht doch besser als ihr Ruf?
Der Begriff der Entfremdung, ursprünglich ein Grundpfeiler marxistischer Theorie, ist in den vergangenen Jahrzehnten aus der Mode gekommen. Zu Unrecht. In einer Gesellschaft, in der Selbstfindung und Selbstsuche religiösen Status erlangt haben, persönliche Befindlichkeiten einen höheren Stellenwert genießen als wissenschaftliche Erkenntnis und in der mit individuellen Abneigungen und Vorlieben Politik betrieben wird, erscheint dieser Begriff aktueller denn je. Der vorliegende Essay untersucht die verschiedenen Ausformungen des entfremdeten Lebens und geht seinen sozialen, technischen und ideologischen Ursachen auf den Grund. Das Ergebnis ist die schonungslose Analyse einer Gesellschaft zwischen Realitätsverlust, Identitätswahn und Hybris. »Spiegel«-Bestsellerliste März 2022.
Immer wieder hören wir heute, dass Leidenschaft, Eros und Intimität im Verschwinden begriffen seien und wir in völlig entromantisierten Zeiten lebten. Der Wunsch nach unverbindlichem Matching habe die Suche nach dem Glück im und mit dem Anderen verdrängt. Martin Scherer lässt sich von solchen Befunden nicht beeindrucken. Stattdessen sucht er nach einem Gegengewicht zur Beliebigkeit unseres spätmodernen Zeitgeistes. Ein fast schon in Vergessenheit geratener Begriff, der für pure Anti-Ökonomie steht, soll ihn dabei leiten: Hingabe. Im Zustand der Hingabe verwandelt der Mensch sich in einen Liebhaber, der sich in einem Anderen verliert, um sich zugleich im bedingungslosen Erleben zurückzugewinnen. Auch wenn wir hier meist vor allem an Erotik denken, lässt sich Hingabe als tätige Verschwendung von Aufmerksamkeit, Zeit und Energie auch anderswo finden. Kunst und Wissenschaft etwa, aber auch die Sammelleidenschaft sind Paradebeispiele dafür. Es bedarf nur dieser einen paradoxen Stärke: für etwas schwach werden zu können.
Dass Großbritannien anders tickt, ist Kontinentaleuropäern spätestens seit der Brexit-Abstimmung klar. Besonders England pflegt einen nostalgischen Stolz auf seine Historie. Zugleich jedoch zeigt es sich entschieden zukunftsorientiert und innovationsfreudig. Ausgeprägte Spannungen zwischen den sogenannten somewheres und den anywheres, die im Brexit kulminierten, sind die Folge. Wie sich die besondere Mischung aus Traditionsbewusstsein und Weltoffenheit im gesellschaftlichen Leben ihrer Wahlheimat niederschlägt, führt uns Marion Löhndorf anhand von Erfahrungen aus dem Alltag vor Augen und fragt: Was ist eigentlich typisch englisch? Ihre Beobachtungen bieten eine unverzichtbare Orientierungshilfe für das Selbstverständnis und die politische Situation jenseits des Kanals.
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